Ich heisse Hibou
Früh am Morgen lernst du am besten. Sagte meine Mutter. Sie weckt mich früh um 5 Uhr. Mit dem blauen Vocabulaire-Heftli fragt mich Mutter am Küchentisch die Franzi-Wörter ab.
Ab heute heisst sie Hibou. So befahl Max Niederer, der ledrig braungebrannte Sekundarlehrer der Klasse. Doris ist eine Eule, die tagsüber schläft, erklärte er weiter.
Er stand nicht gerne vor den Schülerinnen und Schülern. Lieber kletterte er in den Dolomiten und in der Bergwelt des Himalayas herum. An seinem blütenweissem Hemd stehen immer die drei obersten Knöpfe offen. Um seinen Hals glänzt eine schmale Goldkette. Er geht durch die Bankreihen und fragt die Franzi-Wörter ab. Ich zittere. Weiss gar nichts mehr. Meine neugelernten Wörter fallen der Anspannung zum Opfer. Kann nicht mehr sprechen. Wenn die Knaben eine Antwort nicht wissen, schlägt er sie, bis sie zu Boden fallen. Vor Angst bin ich starr und steif.
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Die Juli-Sonne brennt. Die Erde schwitzt. Mutter trägt schwarze Badehosen mit roten Punkten. Mit kräftigen Zügen stösst sie sich von der obersten Trepppenstufe der Brättlibadi ab. Und wettert wie immer auf den Zürisee. «En warme seichte Tümpel isch das».
Geboren bist du 1909 direkt in den Fischerhäusern am Rhein. Du hast im Rhein schwimmen gelernt und weisst, wie der Fluss zieht.
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Am Sonntag gab es manchmal einen Zopf. Den Hefeteig hat sie am Vorabend zubereitet. Hat den Teig in eine Schüssel gelegt, mit einem feuchten Tuch zugedeckt und bei Raumtemperatur aufs Doppelte aufgehen lassen.
Und früh, vor dem Z’Morgen hat sie den Zopf für den Ofen bereitet. Hat drei Stränge neben einander gelegt und am oberen Ende zusammengedrückt. Linken Strang von aussen in die Mitte gelegt. Rechten Strang von aussen in die Mitte gelegt. Hat so weitergefahren, bis die Stränge eingeflochten waren. Zum Schluss den Zopf noch mit Eigelb bestrichen und dann ab, in den vorgeheizten Backofen.
Jeden Morgen hat sie mir zwei Haarzöpfe geflochten. Aus einer Schuhschachtel durfte ich immer zwei farbige Seidenbändel aussuchen die nachher meine Zöpfe zierten. Ich wollte immer ganz grosse Maschen haben. Am liebsten Rote.
Am Abend hat sie mir manchmal aus Staub´s Kinderbüchlein vorgelesen.