Festhalten oder loslassen
Gross und mächtig steht er in meinem Schlafraum. Der Schrank. Also männlich. Schon immer wolltest Du zu hoch hinaus. Für die obersten Tablare nötigste Du mich immer auf den Dreitritt. Breit bis Du auch. Protzig, mit fünf Türen. Du warst einmal weiss. Jetzt bist du alt und verlebt, vom Leben gezeichnet. Die Lamellentüren leicht vergilbt. Das Nikotin vieler letzter nächtlicher Zigaretten haftet in Deinen Rillen.
Du bist mehr als ein gewöhnlicher Schrank. Du bist auch Spielfläche für meine drei Katzen. Mit sicherem Sprung vom Katzenturm landen sie auf Deiner hohen Abdeckplatte und balancieren von dort aus sehr geschickt über die halsbrecherisch schmalen Eisenbalken durch die Loft.
Ich habe Dich vor vierzig Jahren von meinem Lohn abgespart. Du bist mein erster eigener Schrank geworden. Du bist mit mir umgezogen. Von dort nach dort und weiter.
Oft wirst Du angefeindet. Nein, nicht von mir. Meine Freunde, jene mit dem feinen Sinn für das gutes Design begegnen Dir mit abschätzigen Worten. Doch je mehr Du in die Defensive gedrängt wirst desto breitbeiniger verteidigt ich Deine Daseins-Berechtigung.
Du bist kein währschafter Bauernschrank aus massivem Tannenholz und bemalt mit sakralen Motiven. Nie warst Du ein Teil der Mitgifte, nie gefüllt mit Leinen, Flachs und Wäsche für den Haushalt. Du taugst also nicht für die Erbfolge. Schrank, alter Freund, was soll jetzt mit Dir werden?
Seit Tagen umschleiche ich mich mit dem Gedanke vom Ballast abwerfen und konfrontiere Dich mit der Entrümpelung.
Doch leicht wird Deine Geschichte nicht zu Ende geschrieben, Dein Leben nicht ausgelöscht.