Vom Bläuen und Bleichen
Ihre Frische erkenne ich an der leicht gebogenen Seitenlinie und der aufgerissenen Haut. Das Maul am grossen Kopf reicht bis hinter die kleinen kugelförmigen Augen. Bald macht sie der Essigsud weiss und starr. Schwarze Punkte wie Sommersprossen auf blaugrau schimmernden Schuppen. Ein silberner Bauch.
Ich werde sie auf gelbe Butter betten. Blaugekocht auf einen weissen Teller. Drei Zitronenscheiben und Salzkartoffelstücke als Beilagen. Ein Zweiglein grüne Petersilie der Grabschmuck.
Der Fisch, das Blau, der See.
Ich rieche den See. Immer, immer rieche ich den See.
Und immer, wenn wir zum See wollen, senkt sich die rot-weisse Barriere. Darauf kann man sich verlassen. Der Bahnübergang wird zum ständigen Hindernis. Er trennt den See vom Dorf und mich vom See.
Die Mutter trägt bei der Arbeit ihre kleingeblümte Kittelschürze. Vorn die Knopfleiste und zwei aufgesetzte Taschen. Im Sommer ärmellos. Das gebundene Tuch auf ihrem Kopf rückt sie mit der linken Hand zurecht. In der Rechten hält sie die Deichsel des beladenen Leiterwagens. Keine Hand frei, ihre Hände immer besetzt. Nur manchmal, wenn ich in der Nacht schlimme Träume habe, legt sie ihre Hand auf meine Stirn.
Ich trage den alten Zinkkessel. Darin zwei Fegbürsten, zwei grosse viereckige Kernseifen und die Säcklein mit dem Blaupulver.
So stehen wir da, die Sonne brennt auf unsere Haut. Vor uns die flimmernden Geleise. Der Teer riecht nach Sommer.
Ungeduldig trete ich von einem Bein auf das andere.
„Es kommt ein Güterzug mit mindestens dreissig Wagen“, sagt die Mutter. “Nein“, halte ich entgegen, „sicher ist es der Schnellzug Zürich – Sargans – Chur.“
Die Barriere noch immer geschlossen. Dürfte man doch einfach unten durch und losrennen.
Endlich taucht sie auf, die grüne Schnauze der Lokomotive. Bremsen quietschen, Funken sprühen. Ein Windstoss drückt mein Kleid an meinen Bauch.
Und schon fährt der Zug laut pfeifend in den nahen Bahnhof ein.
Beide haben wir die Wette verloren. Es ist ein Personenzug. Ein Bummler.
„Nächster Anschluss an die Südostbahn und Einsiedeln auf Gleis eins“, tönt es aus dem Lautsprecher.
Und endlich, bim, bim, bim. Langsam hebt sich die Schranke. Und langsam ziehen wir mit unserem Leiterwagen über den holprigen Schotter und die Gleisschwellen.
Der kleine Seehafen liegt im Schutz der Hafenmole vor uns. Zwischen verwitterten Holzstegen die vertäuten Ruder- und Motorboote. Vereinzelt dazwischen kleine Jollen. Ihre Seile schlagen im Rhythmus der Wellen gegen die Masten. Es knarrt, es ächzt, es klirrt.
Unter hohen Pappeln führen ein paar Steinstufen hinab zum Känzeli. Die Pappelblätter flüstern im Wind, auf dem See tanzen die Sonnenkringel.
In der Ferne tuckert der kleine Dampfer «Gambrinus» gemächlich dahin. Er bringt das Bier aus unserer Dorfbrauerei in die Welt hinaus. Enten schnattern und Schwäne tauchen nach braungelbgrünen Flechten, die sich um die Steine winden.
Der See ist mein See. Er berührt mich. Ich tauche in ihn ein. Bin eins mit seiner spiegelnden Oberfläche. Vertraut mit seinem Geruch nach Fisch, Motorenöl und Algen.
Wellen laufen auf mich zu und laufen wieder fort. Kehren wieder und verlieren sich im grossen Wasser. Möven kreischen. Sie tauchen nach Beute.
Barfuss steigen wir die Steinstufen hinunter zur Waschstelle. Schwer liegen die schmutzigen Leintücher auf Mutters Armen.
Auf den Knien, mit vorgebeugtem Oberkörper schwenkt sie die grossen Tücher im Wasser hin und her und breitet sie, nass getränkt, auf dem steinigen Känzeli aus. Zusammen schrubben wir über das ausgebreitete Tuch. In der Nase der feine Seifenduft, unter den Händen die Seifenschmiere. Mit ihr zeichne ich Spuren, Blumen und Häuser und lasse sie wie von Zauberhand wieder verschwinden.
“So, mach e chli vorwärts Maitli. Mir händ kai Zyt zum Umeblötterle“, mahnt die Mutter. Sie beginnt zu singen.
«Zeigt her eure Füsse, zeigt her eure Schuh und sehet den fleissigen Waschfrauen zu.“
Jetzt, beim gemeinsamen Waschen, kann ich der Mutter zeigen, wie nützlich ich bin.
Dann ist es eingeseift, das viele Weiss. Es wird geschlagen, gebürstet und gerieben. Zum Ausspülen schwenkt die Mutter die Tücher in weiten Bogen im See hin und her. Zieht sie mal rauf und senkt sie wieder runter. Das Wasser gurgelt, grad so als wollte es das Tuch mitsamt der Mutter in die Tiefe ziehen. Die seifigen Schlieren vermischen sich mit dem blaugrünen Nass. Der gebeugte Rücken, die angespannten Arme – die Anstrengung spiegelt sich in Mutters Gesicht.
Von Neuem breiten wir die gespülten Bettlaken vor uns aus. Jetzt! Jetzt bestreuen wir sie mit dem königsblauen Pulver. Das löst sich auf den nassen Tüchern in blauschattierte Verästelungen auf. Verwandelt sich im Kampf gegen das Wäschegilb in wunderliche Formen und Gestalten. „Schau mal“, sage ich , „da, ein Baum, und jetzt ist es eine Maus, und jetzt ein Auge.“ Mutter knotet sich das Kopftuch fest, Bläuen und Bleichen ist eine ernste Angelegenheit.
Beim letzten Ausspülen verfärbt sich das Seeblau. Vermengt sich mit Veilchenblau, wird Zwetschgenblau, zuletzt Tintenblau. Mein Blau. Treibt davon wie ein langer Schleier.
Wir stopfen die ausgewrungene Wäsche in die Korbzaine und diese auf den Leiterwagen. Holprig und schwer ist sie, unsere Fuhre. So karren wir heimzu. Und wieder stehen wir vor der geschlossenen Bahnschranke. Ich sehe das müde Gesicht der Mutter, die Schweissperlen auf ihrer Stirn. Zwischen uns das Schweigen. Ich schaue zurück zum See.
Ich höre ihn kommen. Zwinge meinen Blick nach vorn. Er fährt vorbei. Wirbelt Staub auf. Einmal, das weiss ich, werde ich in einen Zug einsteigen und nicht mehr zurückkehren.
Ein Motorrad biegt um die Kurve.
Der Onkel Schorsch auf seiner schwarzen BMW.
Das Mädchen hält die Luft an, steht wie angewurzelt.
Es drückt die Augen zu, presst die Hände auf seine Ohren.
Es denkt sich fort zum See, zum See, zum Blau.
Doch es gibt kein Entkommen.
Nicht von den Lauten seines Atems, nicht vom Geruch seiner Finger.
Du musst halt fleissig bläuen und bleichen, Mädchen, höre ich Mutters Stimme, während ich die herrlich duftende Forelle ins Speisezimmer trage.