Der Milchmann

Am 25. Dezember schnipselte ich Orangen, Bananen, Ananas und Kiwi. Die gefüllte, fruchtige Glasschüssel enthielt Reminiszenzen an Weihnachten in meiner Kindheit.
Und während ich von diesem köstlichen Salat esse, erinnere ich mich noch an ein ganz besonderes Weihnachtspäckli. Es war in den 60ziger Jahren. Mutter bekam von ihrem Chef ein kleines schmales Büchlein geschenkt. Eingeschlagen in bedrucktes Geschenkpapier und verschnürt mit gelbem Zierband. Der Buchtitel «Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen» von Peter Bichsel hat uns sehr überrascht.
Bücher gab es in unserem Haushalt keine. Auf Mutters Nachttisch lagen immer zwei, drei Groschenromane.

Heute weiss ich, es gibt Bücher, deren Titel alles sagt, alles erzählt.
Und prompt fallen mir Erinnerungen aus meiner Kindheit ein. Wahrscheinlich ist das eine Alterserscheinung.

Unser Milchmann vom Reblaubenweg in Wädenswil hiess Herr Manser. Er war klein und kräftig. Das Gesicht braun gebrannt. Die Ärmel hochgerollt schob er die Karre mit dem vier Milchtansen von Haustür zu Haustür. Die Frauen standen schon mit ihren Milchkesseli auf dem Trottoir bereit. Frau Baumgartner, Frau Kalt, Frau Bauer, Frau Boni und Frau Steiger warteten plaudernd und lachend auf ihren Milchmann. Frau Boni zog dann immer eine Zigarette aus ihrem gelben Päckli Marke Aida. Sie rauchte auf der Strasse. Vater meinte, sie sei sicher eine Hure.
Herr Manser füllt 1-2 Liter Rohmilch in die Michkesseli. In der Wohnung leerte Mutter diese Milch in eine Entrahmungsschale ganz aus Edelstahl mit abnehmbarem Rahmabscheider. Im kühlsten Zimmer, das mit den geschlossenen Fensterläden, blieb die Milch so lange stehen bis die Nidle an die Oberfläche der Milch gestiegen ist. Später schöpfte dann Mutter den Rahm ab und hat ihn so lange geschlagen bis er ausflockte und gelb wurden. Im kalten Wasser entstand ein goldiges Ankebälleli. Immer nach dem Mittagessen bekam Vater ein Kaffee im Glas mit Nidle. Für uns alle gab es Merengue mit Nidle am Sonntag zum Dessert.